Leonhardi-Museum Dresden / 01. Juni 2018
Rede von Matthias Flügge zur Eröffnung der Ausstellung
Joachim Richau – WERK WANDEL – Fotografie 1979 – 2016
Meine Damen und Herren,
diese letzte Station der Werkschau von Joachim Richau, von Kiel über Berlin und Cottbus hierher in stets wechselnder Gestalt kommend, zeigt drei wesentliche Aspekte dieser nun schon seit fast 40 Jahren andauernden Bildproduktion.
Ich möchte sie die „objektiven“ nennen – im Gegensatz zu dem anderen biographisch subjektiven Werkstrang, der uns hier verborgen bleibt. Objektiv, das heißt hier nicht, dass der Fotograf ohne inneres Beteiligtsein arbeite, es meint vielmehr die Motivkreise, die er zyklisch – nein, nicht bearbeitet – sondern als Aufgabe einer inneren Suche nach der verloren Wahrheit des fotografischen Bildes betrachtet. Eine solche Suche kann nicht „objektiv“ sein. Sie fordert viel mehr als nur Professionalität. Denn die eigentliche Wahrheit kann nur die des Künstlers selbst sein.
Es sind sehr unterschiedliche, aber nur auf den ersten Blick kaum zusammenhängende Motive: die schwarz weißen Bilder aus dem brandenburgischen Dorf Beerfelde aus den späten 80ern, den Traum von Berlin aus der Wendezeit, die Fragmente aus dem Nowhereland im deutsch polnischen Grenzgebiet der frühen 90er und die Steinbrüche und Eisreflexionen in Schweden aus den jüngsten Jahren.
Zuerst mag das als ein Weg aus der sozial interessierten Dokumentation über das Verschwinden des Menschen in einer zerbrochenen Wirklichkeit hin zu einem Eskapismus steinkalter Abstraktion aus dem nördlichen Schweden erscheinen, wo der Mensch nur noch in den Granit zersprengenden Spuren der Steinbohrer an- besser: abwesend ist. Und das ist auch ein erster Befund, denn, wie schon gesagt, alles was Richau macht, ist ein Spiegel seiner selbst. Aber es gibt noch so manches darüber hinaus.
Mit den Beerfelde Bildern ist er über die engere fotografische Community hinaus bekannt geworden. In den 80er Jahren, im Osten, ging es darum, in der mehr und mehr von Wahr- und Wirklichkeit entfernten Endzeit des Systems einer humanen Existenz, sich einem Gewordensein und einer wie auch immer gearteten Zukunftserwartung zu versichern, die ganz im Bild der Gegenwart aufgehoben zu sein schienen.
Das Dokumentarfilmer-Ehepaar Junge hat mit der filmischen Langzeit-Dokumentation über Golzow, 70 km nördlich, ein Jahrhundertwerk geschaffen. Richau zeigt den Zustand per se, den Moment, zeigt die Menschen, die ganz selbstbewußt ihr richtiges Leben leben, von dem man immer dachte, es sei das falsche. Er ist auch später, als die Mauer weg war, wieder dorthin gefahren und es entstanden sehr andere Bilder. Man könnte sagen, es sind solche von einem falschen Leben, von dem man immer dachte, es sei das richtige.
Das war noch Dokumentararbeit von sublimer künstlerischer Kraft. Erzählend lesbar und zugleich vollendet bildhaft. Dann kam der Zweifel am Erzählen. Und beim Dokumentieren hat er das Fragmentieren gelernt und beim Fragmentieren die Rückbindung an das Ganze nicht aus dem Blick verloren. Fragmentieren heißt hier viel mehr als nur die Wahl des Ausschnittes von Wirklichkeit, die schließlich alle Fotografie konstituiert. Fragmentieren in diesem Sinne ist eine Reaktion des Fotografen, der die Suche nach der Ganzheitlichkeit aufgegeben hat. Wie bei den Bildern vom Berliner Traum und denen aus dem Grenzland.
Die Schwarz-Weiß-Fotografie von Joachim Richau ist seither aus zwei Quellen gespeist: Zum einem aus dem Empfinden für das Wesenhafte von Details, Anschnitten und formalen Struktur(er)findungen und zum anderen aus einer inszenatorischen Bewusstheit für genuin graphische Valeurs. Richau zeichnet mit dem Licht, das seine Filme schwärzt, und man kann die klassischen Betrachtungskriterien für die Zeichnung auf seine Fotografien anwenden. Zeichnen ist Erinnern von sichtbar Gewesenem, es gilt als der persönlichste und unmittelbarste Ausdruck künstlerischen Tuns. Zugleich bedarf die Sponaneität des Zeichnens abstrahierender Konzentration – unabhängig vom Medium ihrer Ausführung. Und sie stellt die Frage nach den Grenzen des Abbildhaften ebenso wie nach der Geltung von individuellen Zeichen.
Und doch „erzählen“ auch diese Fotografien. Heute vielleicht mehr als damals, als sie entstanden sind, im „Land ohne Übergang“. Zäune, abgebrochene Brücken, ruinöse Wachtürme, verrottende Grenzpfähle, zubetonierte Schienen, in den beiden Jahren 90-91, als Richau an der Grenze zu Polen fotografierte, war alles zu Ende und noch nichts hatte wirklich angefangen.
Nach Ausrufung des Kriegsrechts war es auch für DDR-Bürger schwer geworden, nach Polen zu reisen, die Brüderlichkeit wurde außer Kraft gesetzt. Und doch zeigen diese Bilder mehr als nur die Gegebenheiten einer Umbruchszeit. Ihre formale Kraft und bildhafte Komposition hebt sie über das Dokumentarische hinaus und macht sie zu ort- vielleicht auch zu zeitlosen Metaphern von Versperrung, Blockaden – eben Grenzen jeder Art – und dem vollkommenen Unwirtlich-Werden einer ehedem vertrauten Landschaft, irgendwo im Nirgendwo, wie in der ZONE von Tarkowski.
Es war ja die Zeit, wo vieles Vertraute verschwand und es war die Zeit, auf die eine nie dagewesene Blüte einer deutsch-polnischen Zugewandtheit folgte, die heute wieder am Verdorren ist.
Zuvor, im Mai 1989, ist das Bild vom Nashorn in dem gekachelten Gefängnis-Raum im Westberliner Zoo entstanden, das Richau in seine Serie „Berliner Traum“ aufgenommen hat. Es ist immer wieder reproduziert worden und zählt zu seinen zentralen Aufnahmen. Eine Metapher, ein emblematisches Bild. Es steht für für Eingesperrtsein, für Wehrlosigkeit und dabei auch für eine merkwürdige Zufriedenheit unter dem wärmenden Licht der beiden wärmenden Lampen, die das Nicht-Geschehen in einer schummerigen Atmosphäre halten. Oder ist es gar ein Raum des Todes, von dem das Tier noch nichts ahnt? Jedenfalls ist es keine normale Zoosituation, in der das Gefangensein durch Attribute und Naturimitate überspielt werden muss, um den Besuchern ein „richtiges Leben“ der Tiere vorzugaukeln.
Irgendetwas wird passieren, aber was? Ich hab das Nashorn immer als die Kehrseite oder besser als eine zeitgemäße Korrektur zu Walter Benjamins berühmter Interpretation von Paul Klees Angelus Novus, dem Engel der Geschichte verstanden. Jenem Engel den der katastrophische Sturm der Geschichte ins Gesicht blasend vorantreibt und der rückwärts blickend „ eine einzige Katastrophe (sieht), die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ Unser „Engel“ der zu Ende gegangenen Postmoderne, das Nashorn, ist hingegen restlos ermattet, er hat die Augen geschlossen und sieht die nahenden Katastrophen nicht, der Sturm der Geschichte geht folgenlos vorüber, an ihm und dem toten Raum, in den er geworfen ist. Es war auch eine Warnung. Die Leute haben sie verstanden und das Bild mehrfach aus dem Leuchtkasten am Berliner Kollwitz-Platz geklaut –es hing dort als Teil eines Kunstprojektes – indem sie die trennende Glasscheibe einschlugen.
Die gesamte Serie „Berliner Traum“, entstanden 1986 bis 1990 ist ein eminentes Zeugnis der transitorischen Situation in dieser Zeit. Es sind nicht alles Bilder von Berlin, Richau war in dieser Zeit auf Reisen in den Westen, schließlich hatte immer irgendwo eine Tante Geburtstag. Und dann träumte er die Welt. Aber das tat er zu Hause. In Berlin.
Sieht man diese Bilder heute, so sind sie dem gegenwärtig gerne aufgewärmten Kanon der sogenannten „DDR-Fotografie“ nicht wirklich zuzurechnen. Gewiss, Richau war, wie seine Kollegen, ein Autorenfotograf, einer der sich sozusagen selbst beauftragte, seine Themen zu suchen und darzustellen. Er war in den 90ern auch Mitglied der ostdeutschen Fotografengruppe „EIDOS“, die eine Zeitlang mit Ausstellungen und Publikationen auf sich aufmerksam machte – aber er blieb in allen Kontexten zuerst ein Einzelgänger.
Der „Berliner Traum“ erzählt keine geträumten Geschichten, diese Bilder, mehr noch als die vom Niemandsland, zeigen das Fremde im vermeintlich Vertrauten. Das Unwirkliche im Wirklichen und dass wir nicht sicher sein können in dem, was uns umgibt. Rückblickend kann man das politisch sehen oder existenziell, es ist ein Befund.
Vielleicht war es ja die Suche nach einer unbestreitbaren Wirklichkeit – wenn es sowas überhaupt geben sollte – die ihn nach Schweden in die Wälder und an die Seen trieb wie einstmals die Maler nach Italien. Er hat eine Weile gesucht, dann fand er die einsame Hütte am See, ohne Strom und fließendes Wasser. Aber nicht so weit weg von der Zivilisation. Ganz so wie David Henry Thoreau Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Buch „Walden“ ein Leben im Walde beschrieb, das auch nicht weltflüchtig war, sondern nur ein anderes Leben: „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“
Darum also die Steine? Denen alles „Mark des Lebens“ sowieso ausgesaugt ist? Die Strukturen, Bohrspuren und Bruchflächen und –kanten, den unberührten Schnee darauf, die Bildsprache einer hermetischen Abstraktion von Zeit und Dauer direkt vor dem Objektiv?
Man könnte ja in der schwedischen Einsamkeit die allerschönsten Naturfotos mit und ohne Tiere machen, oder das sogenannte „einfache Leben“ in den Dörfern ablichten oder die Flüchtlingsunterkünfte und die organisierten Bettlerinnen aus Roma- und Sinti-Kreisen vor sämtlichen Supermärkten des Landes.
Nein, Richau fuhr monatelang nach Schweden vor allem wegen der Steine. Um ihren inneren Bau zu studieren, die geologischen Schichten, die wie Jahresringe erscheinen, das mühsame Wachstum von Flechten und Moosen oder eben den Schnee, der seine langen Finger über die großen Brocken von Geröll legt und dessen geschichtete Lagen von der Dauer des Winters sprechen.
Doch genug der Beschreibungen. Auch poetische Deutungen gibt es mittlerweile genug. Sie werden vermutlich – hoffentlich – etwas ganz anderes sehen. Erst dann folgen Sie der Intention des Fotografen. Und das ist sehr gut so.
Matthias Flügge
Rektor der Hochschule für Bildende Künste Dresden